Hennstedter Zeitzeugen berichten

Aus der Kindheit

Angesprochen wurden Zeitzeugen, die zwischen 1914 und 1940 in Hennstedt oder nächster Umgebung aufwuchsen. Erfreulicherweise waren alle gern bereit, aus ihrer Kinder- und Jugendzeit zu berichten. Lang und ausgiebig waren die mit ihnen geführten Gespräche, bei denen die ‚gute alte Zeit‘ unseres Dorfes wieder aufzuleben schien. Alte Familienfotos wurden für uns hervorgeholt und mitgebrachte frühere Dorfansichten genauestens studiert, was bei den vielen Erinnerungen hilfreich war. Die Erlebnisse und Eindrücke aus der Zeit des Nationalsozialismus’ und seiner Folgeerscheinungen wurden nicht ausgespart. Einige Aussagen hierzu sind allerdings nicht in diesem, sondern direkt in den betreffenden Artikeln sachgemäß übernommen worden. Der nachstehende Bericht umfasst in etwa den Zeitraum von 1920 bis 1950 und hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er ist vielmehr das Ergebnis einzelner subjektiver Aussagen, die inhaltlich zusammengefasst und zeitlich geordnet wurden.

Aus der Kindheit
Viele Erzählungen stehen im Zusammenhang mit der damaligen Feldarbeit. Eigentlich nicht verwunderlich, da die meisten Dorfbewohner sich im Haupt- oder auch Nebenerwerb von der Landwirtschaft ernährten. Hinzu kam, dass die Feldarbeit ohne die heutigen landwirtschaftlichen Maschinen sehr mühselig und zeitaufwendig war. Familien hielten sich dazu oft den ganzen Tag auf dem Feld auf. Eine der frühesten Erzählungen stammt von den Eltern eines Zeitzeugen. Demnach steckten sie ihn als Säugling auf dem Feld in eine ´Fargenkiss`, da sie ihn während der Feldarbeit kaum beaufsichtigen konnten. Diese Kiste war normalerweise für den Transport der Ferkel zum Markt vorgesehen und wurde oben mit einem Drahtgitter verschlossen. Aus dem gleichen Grund wurden die kleineren Kinder mit langen Tauen am Feldrand an Bäumen oder ähnlichem angebunden. So konnten sie ohne Gefahr spielen und nicht weglaufen. Während die großen Geschwister auf dem Feld mitarbeiten und zwischendurch das von der Großmutter gekochte Mittagessen von zuhause abholen mussten (oder es wurde von ihr gebracht), wurden die Allerkleinsten von ihren Müttern direkt vor Ort gestillt. In einigen Familien gab es am ersten Tag der beginnenden Erntezeit zu Mittag traditionsgemäß einen bunten Mehlbeutel - wegen der darin enthaltenen Rosinen etwas Besonderes und damals üblicherweise ein Sonntagsessen. 
Viele erinnern sich an die Frühjahrs- und HerbstJahrmärkte, die in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg noch in der Kirchenstraße und um das neue Pastorat herum stattfanden, mit dem bunten Kinderkarussell, der Drehorgelmusik, dem Schießstand und einer Zucker- und einer ‚Bückelbude’ (für Räucherfisch). Die paar Pfennige, die sie von den Eltern oder Verwandten bekamen, waren schnell ausgegeben. Aber allein schon dem bunten Treiben zuzuschauen und der Drehorgelmusik zuzuhören, war eine interessante Abwechslung in ihrem alltäglichen Leben, in dem sonst im Vergleich zu heute nur wenig Musik zu hören war. Die früheren Hennstedter Jahrmärkte waren gleichzeitig mit Kram- und Viehmärkten verbunden. Mancher ging nach dem Verkauf seines Viehs erst einmal zum Kartenspielen in eines der vielen Wirtshäuser. Wenn dann die Frauen vergeblich mit dem Mittagessen auf sie warteten, wurden die Kinder zum Abholen ihrer Väter vorgeschickt. Oft waren diese aber noch nicht zum Abbrechen ihrer Doppelkopf-Runden bereit. So erhielten die Kinder von ihnen zur Überbrückung der Wartezeit ein bisschen Kleingeld für den Jahrmarkt. Manchmal bekamen sie noch ein zweites und drittes Mal ein solches Überbrückungsgeld, so dass sie an diesem Tag – vom Mittagessen abgesehen – voll auf ihre Kosten kamen. 
Einmal im Jahr kam ein kleiner Zirkus ins Dorf, in dem ‚die dickste Frau der Welt‘ vorgestellt wurde. Außerdem konnte man dort noch nie gesehene Tiere wie Kamele, Affen, Stachelschweine und andere exotische Kleintiere sehen. Auch ein Pony gab es dort, das ‚richtig zählen und rechnen‘ konnte und es mit seinem Hufescharren bewies, was großes Staunen bei den Kindern hervorrief. 
Im Zusammenhang mit dem Zirkus wird auch von Albert von Leesen, dem späteren Konsul und Stifter des gleichnamigen Rentnerwohnheims in Hennstedt, berichtet, der wohl schon in seiner Jugendzeit geschäftstüchtig war. Vom Dachboden eines seiner Familie gehörenden, heute nicht mehr existierenden Hauses konnte man direkt in das Zirkusinnere sehen. Das brachte ihn auf die Idee, kleine Eintrittskarten anzufertigen und diese in der Schule gegen die Hälfte des normalen Eintrittspreises für einen Logenplatz auf dem Dachboden zu verkaufen! 
Alle Dorfbewohner - besonders die Kinder - freuten sich, wenn der Leierkastenmann oder der Bärenführer mit seinem tanzenden Bären durch die Straßen von Hennstedt zogen, sorgte er doch für eine kurzzeitige Unterbrechung ihres Alltags. Man war gerne bereit, dafür ein paar Pfennige zu spendieren. Andere berichten von ‚Zigeunern‘, die auf ihrer Durchreise in einer der Hennstedter Kiesgruben am Klever Weg lagerten, was die Kinder vom Grubenrand aus interessiert beobachteten. Sogar eine richtige und ‚bunte‘ Hochzeit wurde dort einmal gefeiert. Für die Kinder war die Anwesenheit der Zigeuner spannend und unterhaltsam. Wann hatte man damals schon mal die Gelegenheit, fremde Menschen und ein bisschen von ihrer Lebensart zu beobachten!

 

Großmutter bringt gerade Kaffee:
Das Mittagessen und nachmittägliche Kaffeetrinken im Freien haben sie als Kinder sehr genossen, schmeckte es dort doch viel besser als am häuslichen Küchentisch.

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Bärenführer mit seinem tanzenden Bären

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